Literaturtage zu Albert Schweitzer – Interview mit Sr. Dr. M. Theresia Wittemann

Seit fast zwei Jahrzehnten lädt Schwester M. Theresia Wittemann OSF Interessierte zu spannenden Literatur-tagen ins Stift Urach ein. Dieses Jahr geht es um den Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer, der vor 150 Jahren geboren wurde und vor 60 Jahren starb. Pfarrerin Ute Bögel war im Gespräch mit Schwester Theresia:

Was fasziniert Sie persönlich an AS? Was können wir von ihm lernen? Wo sehen Sie seine aktuelle Bedeutung für uns heute?

Als Franziskanerin fasziniert mich vor allem seine tief in der theologischen Reflexion und im Leben praktizierte „Ehrfurcht vor dem Leben“. Das ist sicher der Impuls, der heute noch am meisten mit Albert Schweitzer und seiner Frau Helene Schweitzer Bresslau, die man im selben Atemzug mit ihm nennen sollte, verbunden wird. Da wir in Deutschland seit über 10 Jahren keinen verpflichtenden Zivildienst mehr haben, halte ich es für zwingend notwendig, dass wir uns wieder an jene „Vor-Bilder“ erinnern, die die Botschaft Jesu zum Maßstab ihres Handelns gemacht haben.

Besonders hilfreich erscheinen mir die Erfahrungen der Kreuzesnachfolge, die Albert Schweitzer nicht erspart blieben: Spätestens als Nobelpreisträger wurde er zum „Mythos“ („greatest man in the world“) hochstilisiert, andererseits aber als Vertreter des weißen Patriarchalismus und Kolonialismus gebrandmarkt. Dieses Schicksal einer (bewusst) einseitigen Rezeption teilt er mit vielen Menschen, die herausragende geistige Fähigkeiten und eine beeindruckende Lebensleistung vorzuweisen haben, aber selbstverständlich immer auch Kinder ihrer Zeit bleiben.

Dass Schweitzer sein gesamtes Leben in den Dienst der leidenden Bevölkerung in Zentralafrika gestellt hat und dem alles – auch die Familie – unterordnete, erschien und erscheint noch heute vielen tadelswert. Doch sollten wir uns „ehrlich machen“: Was opfern Menschen heute nicht alles ihrer Karriere, ohne dass dabei ein sozialer Aspekt überhaupt eine Rolle spielt?

Im hohen Alter von 80 Jahren hat sich Albert Schweitzer außerdem in die Problematik der atomaren Vernichtungswaffen eingearbeitet und seine Popularität einmal mehr in den Dienst der Menschheit gestellt – übrigens kritisch überwacht vom amerikanischen Geheimdienst.

Haben Sie einen Lieblingstext/Lieblingssatz von AS?

Unter dem Stichwort „Ehrfurcht vor dem Leben“ findet man heute sehr viele Texte, in denen Schweitzer die Thematik gedanklich zu fassen suchte. Doch die wunderbare Kernaussage, die auch als eine Variante der Goldenen Regel (Mt 7,12) gelten kann, ist: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Danach kann man sein ganzes Leben ausrichten! – Angesichts der zahlreichen Klimakatastrophen und der viel zu geringen Anstrengungen, der steigenden Erderwärmung entgegenzuwirken, steht mir die folgende Feststellung Schweitzers als stete Mahnung vor Augen: „Mit allem, was lebt, sind wir durch Wesensverwandtschaft und Schicksalsgemeinschaft verbunden.“

AS hat u.a. als Theologe und Musiker und Arzt gewirkt.  Welche Verbindungslinien gibt es von der Theologie zur Medizin?

Bei der Beschäftigung mit den autobiografischen Texten Albert Schweitzers fällt auf, dass er im Rückblick den Schritt vom Theologiedozenten zum Arzt als logische Konsequenz dessen betrachtet, was sein Auftrag von Gott her ist. Im Seminar wollen wir deshalb auch auf Jesus Christus schauen, der die Reich-Gottes-Verkündigung im Auftrag seines Vaters mit dem Heilshandeln an kranken Menschen verbunden hat. Nicht zuletzt lohnt sich ein Blick auf Jesus, den verwundeten Arzt; denn „durch seine Wunden sind wir geheilt“ wie es in einem der Gottes-knechtslieder beim Propheten Jesaja (Jes 53,5) heißt. 

Wenn sich jemand das erste Mal intensiver mit AS befassen will: Haben Sie einen Literaturtipp?

Im Jubiläumsjahr gibt die Homepage des Deutschen Albert Schweitzer Zentrums in Offenbach einen multimedialen Überblick über Leben und Werk von Albert Schweitzer und seiner Frau Helene Schweitzer Bresslau: Albert-Schweitzer-Jahr 2025 | Albert Schweitzer Heute Für alle, die wissen wollen, wie Albert Schweitzers Ideen weiterwirken können, empfehle ich unter den vielen Initiativen die Website der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt, www.albert-schweitzer-stiftung.de.

Sie führt das Erbe ihres Namensgebers bis in unsere Zeit fort und ist immer auf dem aktuellsten Stand: So finden sich dort u.a. Unterseiten zum Umgang von allein 16 (Haus-)Tierarten, Petitionen gegen Massentierhaltung sowie zahlreiche gesundheitsrelevante Themen, die von Landwirtschaft (Böden und Überdüngung) bis zu veganer Ernährung und einem Vitamin B12-Merkblatt.

Als fundierte wissenschaftliche Biografie, die gut lesbar ist und auch die Mitte zwischen ‚Heiligsprechung‘ und überzogener Nachgeborenen-Kritik hält, gilt:

Nils Ole Oermann: Albert Schweitzer 1875-1965. Eine Biografie. C.H.Beck-Verlag München 2009 (3. Aufl. 2010).

Für die Teilnahme am Seminar im Juni sind allerdings keinerlei Vorkenntnisse notwendig. Ich freue mich über interessante Fragestellungen und die Bereitschaft zu Gruppenarbeit mit ausgewählten Schweitzer-Texten. Da die franziskanische Familie heuer 800 Jahre Sonnengesang des heiligen Franz von Assisi feiert, steht inhaltlich der geschwisterliche Umgang mit allem, was lebt, und der vielfältige Dank an Gott für seine wunderbare Schöpfung im Zentrum des Wochenendes.

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